Alfred Polgar: Im Lauf der Zeit (rororo 107, Tb., 1954)

Alfred Polgar: Im Lauf der Zeit (rororo 107, Tb., 1954)
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    Art.Nr.: BL1019
    Publikationsland: Deutschland
    Verlag: Rowohlt Taschenbuch Verlag
    Jahr: 1954
    Bindung/Ausstattung: Taschenbuch, schwarzweiß
    Seiten: 168
    Format: BxH 11,5x19cm
    Sprache: Deutsch
    Versandgewicht: 120g


Produktbeschreibung

Alfred Polgar: Im Lauf der Zeit 168 S. Illustr. OHLwd., Leinenrücken, Taschenbuch, 1.Aufl., rororo Taschenbücher, Nr. 107.
 
Inhalt
  • Gespräch über das Alter
  • Ein Jahr im Studio
  • Der Hase
  • Die Handschuhe
  • Im Vorüberfahren
  • Botanik und Zoologie: Maulbeerbaum ∙ Kastanie ∙ Das geschlachtete Kalb ∙ Der Wolf ∙ Das Gürteltier ∙ Der Elefant ∙ Der Fuchs ∙ Dromedar
  • Garten des Krösus
  • Onkel Philipp
  • Traktat vom Herzen
  • Auf dem Balkon
  • Von Verbrechern und Richtern: Richter-Schule ∙ Ein Schinkensandwich ∙ «Benehmen Sie sich anständig!»
  • Ereignis
  • Entlegenes Städtchen
  • Das Kind
  • Brief an Ingrids Sohn
  • Anfang vom Ende
  • Weltkrieg I: Musterung ∙ Bolivia ∙ Nummer 28 ∙ Simmeringer Hauptstraße
  • Von Gesetzen und Wahlen
  • Der Mantel
  • Sein letzter Irrtum
  • Denkmal des unbekannten Menschen
  • Zwei Uhr sechsunddreißig
  • Der Kapitän
  • Liebe und dennoch
  • Städte, die ich nicht erreichte: Karlsbad ∙ Zara ∙ Linz
  • Medizin
  • Drama
  • Schlafwagen
  • Der Sternenhimmel
  • Die Tauben von San Marco
  • Girls
  • Fremde Stadt
  • Verschiebung der Jubiläen nach vorn
  • Muz
  • Gesang mit Komödie
  • Das schlecht bedankte Geld
  • Weiße Tiere
  • Der Doktor
  • Eine Sechzehnjährige
  • Großkampftag
  • Père Lachaise
  • Der unbekannte Soldat
  • Sechstagerennen
  • Grotesker Film
  • Wie macht der Winter froh!
  • Empörung im Stall
  • Geflügeltes Wort
  • Natur und Kunst
 
Antiquarisch
     
    Geboren am 17. Oktober 1873 in Wien als Sohn eines Musikers, übersiedelte Polgar 1925 nach Berlin, wo er für die Wochenschriften «Weltbühne» und «Tagebuch» das Theater-Referat übernahm. Seine von Geist blitzenden Kritiken füllen vier in den Jahren 1928 bis 1932 erschienene Bände. Polgar schrieb auch selbst für die Bühne, alleine oder mit Egon Friedell; nachhaltig berühmt wurde er aber mit seinen kurzen Prosastücken, die schon den Zeitgenossen als «menschlich, geistig, schriftstellerisch vom ersten Rang» (Oskar Loerke) galten und auch heute noch durch ihre sprachliche Meisterschaft und ihren Witz entzücken. Aus dem nationalsozialistischen Deutschland emigrierte Polgar nach Österreich und 1940 über Frankreich und die Pyrenäenpfade nach Amerika. Alfred Polgar starb am 24. April 1955 in Zürich.

    Ein Jahr im Studio

    Ein Jahr im Studio

    Vor etlicher Zeit nahm ein hilfsbereites Film-Studio in Hollywood ein paar europäische Schriftsteller (ich gehörte zu ihnen) in seine Dienste. Ein durchaus selbstloser Akt des Studios, denn es brauchte uns in keiner Weise und wußte, als wir ihm gehörten, mit diesem seinem Besitz nichts anzufangen. Doch ließ man uns noblerweise nicht fühlen, wie unnütz wir waren, machte uns die Stellung als quantités négligeables leicht. So verbrachten wir, von niemand gekränkt, ein Jahr auf dem gastfreundlichen «lot», zwar nicht beschäftigt, jedoch hierfür bezahlt. Kein idealer Zustand; aber immerhin besser, als wenn es umgekehrt gewesen wäre.

    «Mach’ dich so wenig wie möglich bemerkbar!» so lautete der Rat in Studio-Dingen erfahrener Freunde. Und das war auch der Wunsch der Studio-Herren. Sie äußerten ihn nicht in klaren Worten, aber er war ihnen von den Augen abzulesen bei den spärlich gebotenen Gelegenheiten zu solcher Lektüre. Ich darf mir das Zeugnis ausstellen, daß ich redlich bemüht war, der Aufgabe, mich nicht bemerkbar zu machen, nachzukommen. Kein Verdienst, denn sie harmonierte aufs beste mit meinen persönlichen Anlagen und Neigungen.

    So wäre das Jahr in ungetrübtem Frieden verlaufen, ohne das Zwischenspiel mit Mr. Bogojan.

    Mr. Bogojan, balkanischer Herkunft, hatte in Europa mit dem Verleih von Filmen zu tun gehabt, nichts mit deren Produktion. In Hollywood fand er bei der Firma, für die er im alten Erdteil kommerziell tätig gewesen war, Unterkunft. Aber keine Beschäftigung. Ganz unser Fall also. Das Studio wußte mit Bogojan nichts anzufangen, wie es mit uns nichts anzufangen wußte. Was lag da näher als der Gedanke, diese zerstreut herumliegenden Non-Valeurs zusammenzutun? Das Studio entsann sich des Satzes, daß zwei Verneinungen eine Bejahung ergeben – «Litotes» nennen das die Grammatiker –, und unterstellte unsere Kompagnie der Führung des Mr. Bogojan.

    Er war ein guter Mann, ohne sichtbare Flecke an seinem Charakter. Nur hatte er eine lästige Leidenschaft, nämlich: Leidenschaft. Dauernd befand er sich, grundlos, in feurigem Zustand. Wenn er das Gleichgültigste sagte, funkelte doch sein Auge, hatte seine Stimme den Tonfall stürmischer Bewegtheit. Und wenn er schwieg, schwieg er temperamentvoll. Er war wie ein stets straff gespannter Bogen. Ohne Pfeil. Den Filmen, die er uns, zur Einführung in die Kunst der Story-Ersinnung, vorführen ließ, saß er, obschon im Umgang mit pictures alt und grau geworden, in kindlicher Unblasiertheit gegenüber, schluchzend bei den traurigen, von Lachen geschüttelt bei den heiteren Szenen. Und es bedurfte wirklich voller Konzentration auf den vorgeführten Film, um von Gram und Freude, zu denen er unseren Mentor hinriß, nicht angesteckt zu werden. Es war nicht seine Schuld, daß die Inspirationen, die er uns aus eigenen geistigen Beständen zuteil werden ließ, auf unfruchtbaren Boden fielen.

    «Ein Mann trifft eine Frau» – so beiläufig skizzierte er, flammend, was ihm als dankbarer Film-Stoff vorschwebte – «eine Frau, ein Weib, ein solches Weib», (er ballte die Fäuste) – «und er muß sie haben und – Sie verstehen – sie ist verrückt nach ihm, aber eben deshalb – Sie wissen, was ich meine. – Und da ist eine andere Frau, und – also mehr brauche ich Ihnen doch nicht zu sagen – und da folgt dann eine spannende Szene auf die andere – und zum Schluß nimmt das Ganze eine Wendung – eine Wendung …» (er knirschte mit den Zähnen) «– Sie wissen, was ich meine?»

    Bogojan erlebte Enttäuschung über Enttäuschung an seinen hoffnungslosen Zöglingen. Die Gefühle, mit denen er uns schließlich von der Lohnliste scheiden sah, mögen wie die eines Feldherrn gewesen sein, dessen hohe strategische Pläne nur an der elenden Truppe gescheitert sind.

    Ich hatte die Chance, noch anderen interessanten Figuren des Studios zu begegnen.

    Da war z.B. der freundliche Mann, der am Nebeneingang, durch den ich das Studio betreten und verlassen mußte, Wache saß. Sein Gruß hatte gleich am Tag meines ersten Erscheinens einen solchen Beiklang wissenden Mitgefühls, als sähe er schon den meines letzten herandämmern. Und als dieser letzte Tag gekommen war, wußte er’s. Sein Herz mag es ihm zugeflüstert haben; oder vielleicht das für Torwache-Angelegenheiten zuständige Department. Ich will lieber an die rührende Version glauben, daß es sein Herz gewesen war. An diesem Tag zum erstenmal sagte er nicht: «nice day» oder «nasty day», wie sonst jeden Tag, zur Begrüßung, sondern er sagte gar nichts. Wie taktvoll! Denn «nice day» hätte wie Ironie geklungen, und «nasty day» wie peinliche Anspielung.

    Und da war der bezaubernde Negerknabe, der immer um 12 Uhr mittags, nach Schluß der Filmkinderschule, an meinem Fenster vorbeikam, und zwar fast jeden Tag mit einem anderen Hut auf dem Kopf. Er besaß – keiner, der meine Aufzeichnungen darüber, ein Jahr hindurch geführt, einsieht, wird das bestreiten wollen – die größte Anzahl von Hüten, die je ein Negerkind in den Vereinigten Staaten besessen haben mag. Hüte von verwirrender Vielfalt der Form, Farbe und des Materials. Der graue, hohe aus Filz mit dem schottischen Band wurde mein erklärter Liebling.

    Dann die Stars. Sie sind, anders als die ebenso genannten Himmelskörper, auch bei Tageslicht deutlich sichtbar. Und unterscheiden sich von jenen noch dadurch, daß man sie nicht nur entdecken, sondern auch erfinden kann. Stars leiden sehr an ihrer Popularität. Das Interesse, das ihnen gilt, würde sie zur Verzweiflung treiben, wäre nicht ihre beständige, tiefe Angst, es könnte aufhören.

    Die Gelegenheit sei nicht versäumt, der vielbemühten Spezies der Studiosekretärinnen Anerkennung zu erweisen. Es sind ungemein liebenswerte, gefällige und geduldige Geschöpfe, wunderbar immun gegen Stories und Screenplays, deren Verblödungs-Giften ihr Verstand zumindest vierzig Stunden in der Woche ausgesetzt ist. Geistigen Samen der Studio-Dichter und -Denker aufnehmend und weitertragend, erfüllen sie im Bezirk der Filmschöpfung eine ähnlich verdienstvolle Funktion wie im Pflanzenreich die Schmetterlinge und Bienen, die sich dort als Pollensammler und -Übertrager nützlich machen.

    Als exemplarische Studio-Figur bewahre ich in Erinnerung den begabten und erfolgreichen Kollegen, der, obschon bei den obersten Lenkern der Filmplantage bestens angeschrieben, um seinen Job zitterte. Das taten und tun, mit höchstem Recht, alle anderen auch. Aber das Tremolo des Kollegen war pausenlos. Er hielt die Luft um ihn, als wäre sie erwärmt, in beständiger leiser Schwingung, die, nach den Gesetzen der Wellenbewegung sich fortpflanzend, auch das Nervensystem der in der Nähe Befindlichen zum Vibrieren brachte. Er verhielt sich zu den Schicksal-bestimmenden Personen des Studios wie ein kluger Atheist zu Göttern, von deren Gottheit er nicht überzeugt ist, denen er aber, aus Vorsicht, jedenfalls opfert. Er befruchtete den Produzenten, für den er arbeitete, ihn hierbei in der Täuschung lassend, daß er seinerseits von ihm befruchtet werde. Er praktizierte ihm die Einfälle, die er selbst hatte, listig in die Tasche und empfing sie von dort als Originaleinfälle des Vorgesetzten dankbar wieder.

    Der Produzent mochte ihn gut leiden.

    Es geschah einmal, daß der Oberste des Studios in der Tür zum Speisesaal erschien. Auf den Kollegen wirkte die Erscheinung zugleich elektrisierend und lähmend. Ein Ausdruck gehemmter Ehrerbietung trat in seine Züge, er pflanzte Messer und Gabel senkrecht auf den Tisch hin wie «Habt Acht» stehende Schildwachen und saß stramm. Was anders konnte er unter den gegebenen Umständen für den Chef tun?

    Gewiß, überall in heutiger Zeit und Welt, wo Arbeit ein Glücksfall ist und kein selbstverständlicher Anspruch, wird um den Job gezittert. Aber nirgendwo so heftig wie in Hollywood. Daher kommt es wohl, daß in dieser Gegend, in der Erdbeben nichts Seltenes sind, sensitive Leute oft ein solches verspürt haben wollen, auch wenn keines stattgefunden hat.

    Hollywood ist ein Paradies, über dessen Tor geschrieben steht: «Laß, der Du eintrittst, alle Hoffnung fahren.» Das ist aber in Kalifornien nicht so einfach. Der Pessimismus braucht dort eine Weile, um sich gegen den Optimismus durchzusetzen, zu dem Klima und eine von Schaffenslust überquellende Natur verleiten. In Kalifornien blüht der Rosenstrauch viele Male im Jahr. Hollywoodisch gesprochen: wenn eine story, die er produziert hat, ungepflückt verdorrt ist, beginnt er sogleich an einer neuen zu arbeiten.
    Zustand: 
    Sehr gut. Papier altersmässig bräunlich.
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